Wahlprüfsteine: Antworten für den Verein WüSL, Selbstvertretungsorganisation von Menschen mit Behinderung in Unterfranken

Der Verein WüSL, eine Selbstvertretungsorganisation von Menschen mit Behinderung in Unterfranken, hat die folgenden Wahlprüfsteine erstellt, um Kandidierenden und Parteien die Gelegenheit zu geben zu behindertenpolitischen Fragen Stellung zu beziehen.

Unsere Antworten

Der GRÜNE Bezirksverband Unterfranken, die GRÜNE Bezirkstagsfraktion und viele Mitglieder haben in einem mehrmonatigen Programmprozess erneut ein umfangreiches Wahlprogramm „Bezirkswahl 2023“ erarbeitet und demokratisch verabschiedet. Das unterscheidet uns wesentlich von fast allen politischen Gruppierungen in Unterfranken. Dieses Programm gibt es in einer Lang- und Kurzversion – und auch – das betonen wir – in Leichter Sprache, zu finden unter dem Link: https://gruene-unterfranken.de/bezirkswahl/

1. Selbstvertretung: Kandidieren auf Ihrer Bezirksliste in Unterfranken Menschen mit Behinderungen; wie viele davon auf einem für sie aussichtsreichen Listenplatz? 

Auf unserer Bezirkstags-Liste kandidiert ein Mensch mit einer sichtbaren Behinderung (Platz 8), ob weitere Menschen Behinderungen oder chronische Krankheiten haben, ist uns nicht bekannt, aber wahrscheinlich, wenn man davon ausgeht, dass 11-12 % der Bayer*innen einen offiziell anerkannten Grad der Behinderung (GdB) anerkannt haben.

Unsere Liste besteht aus überdurchschnittlich vielen Kandidat*innen, die direkt oder ehrenamtlich in Gesundheitswesen und Kulturbetrieb arbeiten, so dass wir eine relativ hohe Expertise in Fragen der Teilhabe von Menschen mit Behinderung aufweisen können.

Bei der Landtagswahl 2018wurde ein unterfränkischer Kandidat von Platz 12 (Paul Knoblach) in den Landtag gewählt. Eine klare Aussage, welcher Listenplatz aussichtsreich ist oder nicht, können wir deshalb nicht treffen. Aktuell sind vier GRÜNE im Bezirkstag (2018 gewählt von den Plätzen 1,2,8 und 11) und drei Grüne im Landtag (Platz 1,2 und 12).

 2. Selbstbestimmung: Wahlfreiheit und Selbstbestimmung sind hohe Werte in der UN-Behindertenrechtskonvention. Dennoch wohnen viele Menschen mit Behinderung in Unterfranken in sog. Behindertenheimen. Tatsächliche Selbstbestimmung und Wahlfreiheit sind innerhalb einer vorgegebenen Tagesstruktur und bei knappem Personal nicht möglich.

Wo sehen Sie Ansatzpunkte, damit diese Parallel- und Sonderwelten in Richtung einer inklusiven Kommune auch für „behinderte Menschen mittendrin“ überführt werden?

Wie wir auch in unserem Wahlprogramm zur Bezirkswahl geschrieben haben, ist uns Selbstbestimmung und echte Wahlfreiheit auch beim Wohnen ein wichtiges Anliegen. Wir fordern die Schaffung von Angeboten mit neuen Wohnformen, die den Menschen ein Höchstmaß an individueller Selbstbestimmung gewähren. Dabei sind uns kleine quartiersbezogene Konzepte wichtig, die im Nahraum eine gute Versorgung für alle Bereiche ermöglichen, genauso aber auch Wohnangebote, die auch stark eingeschränkten Menschen ein eigenständiges Leben ermöglichen, etwa durch persönliche Assistenz. 

3. Persönliche Assistenz: Stehen Sie zum Artikel 19 der BRK und dessen Aussagen für Menschen mit Behinderung, darunter die gleichberechtigte Wahl des Aufenthaltsortes, zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben, unabhängig von Kosten für die Persönliche Assistenz?

Zunächst ist uns wichtig, dass die Kostenermittlung für die persönliche Assistenz auf Augenhöhe passiert, genau am Bedarf ermittelt wird und nicht heruntergerechnet wird und Menschen damit indirekt vorgeschrieben wird, wie sie ihr Leben gestalten. Ob eine Gesellschaft tatsächlich in der Lage ist jede Kostenübernahme, die im Einzelfall bei Persönlicher Assistenz anfallen würde, zu leisten, können wir schwer beurteilen. Die angemessenen Kosten dürfen nicht über den direkten Vergleich mit Kosten, die in einer Einrichtung anfallen würden, gedeckelt werden. Prinzipiell haben wir die Haltung, dass wir best-mögliche Lösungen für Menschen mit Behinderung suchen. Eine Sorge ist dabei sicher als limitierender Faktor auch die möglichen Arbeitskräfte für persönliche Assistenz. Bei weiterhin wachsendem Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel kann sich die Umsetzung auch daher schwierig gestalten!

4. Barrierefreiheit: Barrierefreiheit in jeder Hinsicht ist eine Grundlage für Teilhabe an der Gesellschaft. Wo sehen Sie in Unterfranken Verbesserungsbedarf? Welche Projekte haben für Sie hohe Priorität? 

Priorität haben bei uns eine gute Mobilität – von Bahn(höfen) über Busse und Bahnen bis zu Taxis. Daneben hat der Bezirk auch eine besondere Verantwortung für die aktive und passive kulturelle Teilhabe. Ein herausragendes Beispiel für ein Festival ist dabei zu nennen, das U&D in Würzburg, das Barrierefreiheit in vielen Bereichen ermöglicht, mit barrierefreien Zugängen zu den Bühnen, ebenso wie Rampen für kleine Besuchertribünen. Menschen mit Behinderungen gab es bei den Aufführenden und sehr viele Menschen mit Behinderung waren auf dem Festival anwesend, haben selbstverständlich zum bunten Publikum gehört. So kann und sollte Kultur umgesetzt werden. Ein weiteres positives Beispiel ist das Theater Chambinsky, das barrierefreie Zugänge schafft und auch zuletzt Theater ermöglicht, gleichzeitig für Menschen mit und ohne Hörstörungen. Der Bezirk hat die Möglichkeit darauf beim Inklusionspreis und bei Kulturförderung Einfluss zu nehmen und Richtlinien zu erarbeiten. Hier sind wir seit Jahren sehr aktiv beteiligt.

5. Arbeit: Wie kann es in Unterfranken und Bayern gelingen, Menschen mit Behinderung im ersten Arbeitsmarkt zu festigen? Setzen Sie sich dafür ein, dass so genannte Werkstätten für Menschen mit Behinderung langfristig umgebaut werden und Anreize für den ersten Arbeitsmarkt eingeführt werden? 

Arbeit für alle ist sehr wichtige Voraussetzung für eine inklusive  Gesellschaft. Dahin müssen wir uns auf den Weg machen. Daher brauchen wir hier ein echtes Wahlrecht, das heißt gute Angebote für inklusive Arbeitsmöglichkeiten auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt, Förderung, Prämierung von Betrieben, die sich dem öffnen. Beim Übergang von Schule in den Beruf gilt es durch Job-Coaching und Praktika auszuloten, welches Potenzial ein Mensch besitzt. Der Bezirk als Arbeitgeber muss sich seiner Vorbildfunktion bewusst sein. Unterfrankenweite inklusive Jobmessen und Ausbildungsmöglichkeiten wie aktuell im Projekt Schulversuch BFZ inklusiv in Münnerstadt gilt es zu fördern. Für Menschen, die einen geschützten Arbeitsplatz wünschen, sollen geeignete Plätze ohne Leistungsdruck bestehen bleiben. Die Werkstätten sollten sich nach Möglichkeit auch öffnen, für Menschen ohne Behinderung zur inklusiveren Gestaltung. Das Modell Werkstatt für Behinderte, so wie es heute besteht, genügt nicht den Richtlinien der UN Behindertenrechtskonvention, hier muss Deutschland eine Veränderung schaffen. Dazu gehören auch langfristig eine Anpassung an den Mindestlohn.

6. Wohnen: Die Wohnungsknappheit betrifft insbesondere Menschen mit Behinderung, die hinsichtlich Barrierefreiheit, Bezahlbarkeit und Lage spezielle Ansprüche an Wohnungen haben. Wo müssen das Land Bayern und der Bezirk Unterfranken ansetzen, um den Missstand zu beheben? 

Hier braucht es große Anstrengungen, um die Wohnungsnot allgemein anzugehen und bezahlbaren Wohnraum für alle zu schaffen, Barrierefreiheit bei neuem Wohnraum ist dabei natürlich oberstes Gebot. Zusätzlich braucht es Ansätze in verschiedenen Richtungen, wie Unterstützung von Wohnformen in Wohngemeinschaften, genossenschaftliches Wohnen und ähnliches.

7. Mobilität: Bis zum Jahr 2022 war laut § 8 Abs. 3 PBefG vollständige Barrierefreiheit umzusetzen, bzw. sind Ausnahmen zu begründen. Bis wann werden in Unterfranken endlich alle Bahnhöfe und Haltepunkte barrierefrei? Sind Sie und Ihre Partei bereit, die entsprechenden Mittel im Haushalt zur Verfügung zu stellen? 

Diese Frage kann der Bezirk nur an Bund und Land weitergeben, weil er dafür nicht zuständig ist. Natürlich sind die GRÜNEN für einen barrierefreien Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, ein zentrales Anliegen, das wir bundesweit verfolgen. Barrierefreiheit ist kein ein Anliegen, dass nur für Menschen mit Behinderung wichtig ist, sondern auch für alle Reisenden mit Gepäck, mit Kinderwägen, mit Fahrrädern oder für ältere Menschen.

 8. Bildung: Inklusion wird immer wieder im Zusammenhang mit Bildung/Schule genannt. Zunehmend mehr Eltern wollen, dass ihre Kinder und Jugendliche mit Behinderung in einer Regelschule beschult werden. Wie sehen Sie den aktuellen Stand, für wie wichtig halten Sie inklusive Bildung und woran würden Sie arbeiten? 

Inklusive Bildung ist uns ein wichtiges Anliegen für Kinder von frühester Kindheit an bis ins Schulalter. Gemeinsames Lernen ist ein wichtiger Schritt hin zu einer inklusiven Gesellschaft von Anfang an. Deutschland und gerade Bayern ist hier noch nicht gut aufgestellt. Inklusion in Kitas und vor allem in Schulen ist oft noch eine Ausnahme. Das System mit Beantragung von Schulbegleitung führt zu Sonderrollen von Kindern und teilweise im Antragsverfahren auch zu Defizitorientierung und Diskriminierung. Nach wie vor werden häufig Anträge für Kostenübernahmen von einem möglichen Kostenträger zum anderen hin und hergeschoben und eine nötige Unterstützung damit verzögert. Das Zusammenspiel von Sozialministerium, Kultusministerium und Bezirk gestaltet sich sehr schwierig. Hier braucht es Vereinfachung und einheitliche Zuständigkeiten.

 9. Kultur: Wo sehen Sie die größten Mängel bei der Teilhabe von Menschen mit diversen Behinderungen an kultureller Vielfalt? Haben Sie Ideen diese beheben? 

 Siehe Frage 4

 10. Inklusive Gesellschaft und Teilhabe: Was verstehen Sie unter einer inklusiven Gesellschaft und welchen Stellenwert hat dieser Ansatz für Ihre Partei? 

Die GRÜNEN haben seit ihrer Gründung seit Jahrzehnten einen besonderen Fokus auf eine inklusive Gesellschaft mit allen möglichen Teilhabemöglichkeiten gelegt.

Eine offene und vielfältige Gesellschaft bedeutet, dass kein Mensch auf Grund individueller Merkmale Benachteiligung, Diskriminierung, eingeschränkte Teilhabe oder Gewalt erfahren darf. Die GRÜNEN stehen für eine Gesellschaft, in der sozialer Aufstieg und Teilhabe für alle möglich ist, unabhängig der Herkunft, Geschlecht, Behinderungen, des Glaubens oder der politischen Meinung.

11.09.2023
Verfassser*innen:
Bezirksrätin Christina Feiler, stellv. Behindertenbeauftragte
Bezirksrat Gerhard Müller, stell. Fraktionsvorsitzender
MdL Kerstin Celina, Gesundheits- und Sozialausschuss des Landtags

Auch zu finden auf der Bezirkstagsseite unter: